Gute Beziehungen sind mehr als ein Soft-Faktor

Die Covid-Krise hat einmal mehr gezeigt, dass Schule viel mehr ist, als ein Ort zum Lesen-, Schreiben- und Rechnen lernen. Die Schule gibt vielen Kindern Halt und Struktur, sie ermöglicht das so wichtige Zusammensein in einer Gruppe sowie das Erlernen sozio-emotionaler Kompetenzen.

Wie essentiell die Beziehung zwischen Lehrperson und Lernenden ist, zeigt sich besonders jetzt, denn Beziehung lässt sich digital nur ausgesprochen begrenzt pflegen und aufrechterhalten. Kinder lernen in Beziehung – in einem sozialen Feld, in dem neben den Peers besonders die Lehrperson von größter Bedeutung ist.

Bereits die Hattie-Studie vor einigen Jahren ergab, dass die Qualität der Lehrperson-Schüler*innen-Beziehung mit die stärksten Effekte auf die Leistungen hat (Hattie, 2013), andere Studien bestätigen dies (u.a. Jennings & Greenberg, 2009). Besonders bedeutsam sind positive Beziehungen für Kinder mit Risikobedingungen (Wang et al., 2013).

Gute Beziehungen wichtig in der Sekundarstufe

Studien haben zudem ergeben, dass die emotionale Qualität der Unterstützung bzw. Lernbegleitung einer der wichtigsten Prädiktoren für Schulleistungen bei Jugendlichen ist, unter Umständen sogar wichtiger als die didaktische Qualität des Unterrichts (Allen et al., 2013). Dies widerspricht der landläufigen Meinung, dass die Beziehungsgestaltung in der Primarstufe zwar wichtig sei, deren Bedeutung mit dem Alter der Schüler*innen jedoch abnehme.

Dem ist nicht so – darauf verweist auch eine Metastudie von Roorda et al. (2011), die zeigt, dass die Effekte der Qualität der Beziehung auf schulisches Engagement und Schulleistungen in der Sekundarstufe noch stärker ausgeprägt sind als in der Primarstufe.

Und: Lehrpersonen, deren Beziehungen zu Schüler*innen eine hohe Qualität aufweisen, haben 31% weniger auffälliges Verhalten in ihren Klassen (Marzano et al, 2003). Die Beziehungsqualität in der Interaktion ist also definitiv mehr als ein Soft-Faktor, sie hat unmittelbaren und messbaren Einfluss auf die Leistungen und das Verhalten der Kinder und Jugendlichen.

Mit Achtsamkeit zu mehr Beziehungskompetenz

Jedoch spielt die Beziehungskompetenz in der Ausbildung von Lehrpersonen oft eine eher bescheidene Rolle. Welche Rolle könnte Achtsamkeit dabei spielen, angehende Lehrpersonen angemessen darauf vorzubereiten, konstruktive Beziehungen mit ihren Schüler*innen zu gestalten? Und was können Lehrpersonen konkret tun, um gute Beziehungen zu allen Lernenden aufzubauen und zu pflegen?

Ein zentraler Aspekt von Achtsamkeit besteht darin, mit der Aufmerksamkeit bei genau dem zu sein, was man gerade tut. Wenn ich gehe, dann gehe ich, wenn ich stehe, dann stehe ich …. Wir neigen dazu, mit den Gedanken in der Zukunft oder auch in der Vergangenheit zu sein, aber nicht im gegenwärtigen Moment – dann sind wir in einer Situation nicht wirklich ganz präsent.

So verbreitet und menschlich dies ist – für Lehrpersonen ist ein Mangel an Präsenz keine gute Voraussetzung für den Aufbau positiver Beziehungen und auch nicht für das Führen einer Klasse. Kinder fordern, dass wir ganz da sind, dass wir ihnen wirklich unsere ganze Aufmerksamkeit schenken – mitunter verhalten sie sich störend oder auffällig, um genau das zu erreichen.

Eine Achtsamkeitspraxis wie z.B. die Beobachtung des Atems, das bewusste Wahrnehmen von Geräuschen oder auch unserer eigenen Gefühle trainieren uns darin, mit der Aufmerksamkeit bei der Wahrnehmung im gegenwärtigen Moment zu bleiben. Dies ist ein Schlüssel bei der Gestaltung von Beziehungen: wirklich Da-sein im Kontakt mit den Kindern!

Gelegenheiten für Beziehungspflege wahrnehmen

Das ist sehr herausfordernd in einer Klasse mit oft über 20 Schüler*innen und es wird kaum immer gelingen. Aber es macht einen Unterschied, ob wir die vielen kleinen Interaktionen unbewusst, wie automatisch “abarbeiten”, oder ob wir uns z.B. bei jeder Erklärung, die wir einem Kind geben, bewusst sind, dass dies auch eine Gelegenheit für Beziehungspflege ist: ein freundlicher Blick, eine Geste, eine feine Berührung.

Achtsamkeit bedeutet auch, bewusst zu handeln. Im Alltag bewegen wir uns häufig im sogenannten Autopilot-Modus. Wir reagieren automatisch auf bestimmte Reize – wie z.B. die wiederholte Störung einer Schülerin. Die Achtsamkeitspraxis, das regelmässige Üben des Innehaltens, des Nicht-Reagierens hilft, in schwierigen Situationen im Alltag eben auch zunächst innezuhalten, drei Atemzüge zu nehmen, um dann bewusst zu reagieren.

Dies bewahrt uns vor möglichen Überreaktionen und hilft, in jedem Moment wirklich genau hinzuschauen: Was braucht dieses Kind jetzt wirklich? Achtsamkeit hilft, eine Art “inneren Raum” zu entwickeln, aus dem heraus eine Lehrperson ruhig und gelassen reagieren kann. Sie kann so klar agieren statt dauernd nur zu re-agieren, sie kann also positiv führen statt nur auf Regeln zu pochen.

Sichere Klassenführung und mehr Kooperation

Forschungen zeigen, dass die Achtsamkeitspraxis Lehrpersonen zu einer verbesserten Selbstregulation verhilft (Flook et al., 2010) und ihre Fähigkeit steigert, angemessen mit eigenen Emotionen umzugehen. (Arch & Craske, 2006; Jimenez et al, 2010). Achtsamkeitspraxis fördert auch Feinfühligkeit, Klarheit und Mitgefühl (Dekeyser et al., 2008; Jennings et al., 2013; Jimenez et al, 2010).

Zudem trauen sich Lehrpersonen, die Achtsamkeit praktizieren, besser zu, ihre Klasse zu führen, da sie eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung hinsichtlich der Klassenführung haben. (Jennings et al., 2013; Vogel, 2019a).

Besonders eindrücklich ist eine Studie, die einen Zusammenhang belegt zwischen der Achtsamkeitspraxis einer Lehrperson und der Reduktion von unangemessenem bzw. störendem und gleichzeitig einer Zunahme an kooperativem Verhalten der Schüler*innen (Singh et al., 2013).

Lehrperson sein heisst in Beziehung sein, oder wie Martin Buber (1999) es ausdrückte: “Pädagogisch fruchtbar ist nicht die pädagogische Absicht, sondern die pädagogische Begegnung.” Es lohnt sich, diesem essentiellen Aspekt des Lehrpersondaseins trotz aller anderen Anforderungen mehr Aufmerksamkeit zu schenken – für unsere Schüler*innen, vor allem aber auch für uns selbst. Achtsamkeit bietet ein gutes Fundament dafür.

Detlev Vogel

 

Quellen

Buber, M. (1999). Reden über Erziehung. Rede über das Erzieherische – Bildung und Weltanschauung – Über Charaktererziehung. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Dekeyser, M., Raes, F., Leijssen, M., Leysen, S., & Dewulf, D. (2008). Mindfulness skills and interpersonal behaviour. Personality and Individual Differences, 44, 1235–1245.

Hattie, J. (2013). Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Jennings, P. & Greenberg, M. (2009). The Prosocial Classroom: Teacher Social and Emotional Competence in Relation to

Jennings, P.A., Frank, J. L., Snowberg, K.E., Coccia, M. A., & Greenberg, M. T. (2013). Improving Classroom Learning Enviroments by Cultivating Awareness and Resilience in Education (CARE): Results of a Randomized Controlled Trial. School Psychology Quarterly, 28 (4), 374-390.

Jimenez, S. S., Niles, B. L., & Park, C. L. (2010). A mindfulness model of affect regulation and depressive symptoms: Positive emotions, mood regulation expectancies, and self-acceptance as regulatory mechanisms. Personality and Individual Differences, 49, 645–650.

Marzano, R. J., Marzano, J., & Pickering, D. (2003). Classroom Management that Works. Alexandria, VA: ASCD.

Roorda, D. L., Koomen, H. M. Y., Spilt, J. L. Oort, F. J. (2011). The Influence of Affective Teacher–Student Relationships on Students’ School Engagement and Achievement: A Meta-Analytic Approach. Review of educational research, 81 (4), 493- 529.

Vogel, D. (2019a). Achtsamkeit in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung? Ein Überblick zum Forschungsstand und Ergebnisse eigener Forschung. In Vogel & Frischknecht-Tobler (Hrsg.), Achtsamkeit in Schule und Bildung. Bern: hep-Verlag.

Wang, Ming-Te, Brinkworth, Maureen, Eccles & Jacquelynne (2013). Moderating effects of teacher–student relationship in adolescent trajectories of emotional and behavioral adjustment. Developmental Psychology, Vol 49(4), 690-705.

Weitere Informationen

Der Text ist ein Auszug aus dem Vortrag von Detlev Vogel für das Symposium Pädago­gik der Achtsamkeit der Universität Wien, das in jedem Semester zusammen mit den Studierenden des Seminars Achtsam­keit und Mitgefühl in der Schule veranstaltet wird. Zum Symposium werden internationale und regionale Referent*innen eingeladen, die über ihre Forschungen und Praxis­projekte berichten. Außerdem werden Formen der Achtsamkeits­praxis für Schule und Lehrer*innen­bildung vorgestellt. Bisher wurden neun Symposien veranstaltet – Details dazu finden Sie hier.

Beziehungen aktiv gestalten – Online-Kurs für Pädagog*innen

„Beziehungskompetenz sollte eine Säule der Lehrkräfte-Ausbildung werden“

„No mindfulness without heartfulness“