Self-Compassion für Teenager: Umgang mit dem inneren Kritiker

Das Gespräch führte Sarina Hassine.

Mit welchen Themen kommen Jugendliche zu Ihnen in die Therapie oder in die Mindful Self-Compassion-Kurse?

Tamura: Mein Eindruck ist, dass viele Kinder und Jugendliche heute mit erheblichen Herausforderungen zu tun haben. Viele kommen mit Problemen wie Depressionen oder sozialen Ängsten.

Ein typisches Beispiel: Eine 16-jährige Jugendliche, die sich immer mehr zurückzieht, sich nicht mehr viel mit Freunden trifft oder rausgeht und in der Schule sehr viel stiller geworden ist. Sie traut sich nicht mehr, sich im Unterricht zu beteiligen, weil sie Sorge hat, Fehler zu machen oder von anderen schlecht bewertet zu werden. Dadurch fühlt sie sich oft traurig oder ist sogar hoffnungslos, wird depressiv.

Wie entstehen solche Ängste?

Tamura: Oft entwickeln sich Gedankenketten aus Katastrophen-Ideen: wenn ich morgen meine Englischarbeit verhaue, dann kann ich nächstes Jahr kein Englisch Leistungskurs wählen. Und dann kann ich vielleicht nicht das studieren, was ich später mal studieren möchte – obwohl ich noch gar nicht weiß, was das sein wird.

Und dann werde ich keinen guten Job haben und kein glückliches Leben führen. Und außerdem werden dann die Lehrer und meine Eltern mit mir ganz unzufrieden sein. Und meine Klassenkameraden werden sich über mich lustig machen, weil ich ja sonst immer gute Noten schreibe.

Jugendliche stehen vor zwei großen Fragen: Wer bin ich und wo ist mein Platz in der Welt?

Welche Rolle spielen dabei auch entwicklungstypische Herausforderungen im Jugendalter?

Tamura: Für Jugendliche spielt es eine große Rolle, was andere über sie denken. Sie stehen vor zwei großen Fragen: Wer bin ich und wo ist mein Platz in der Welt? Dieser Prozess der Identitätsfindung ist wichtig, weil sie sich jetzt nach draußen in die Welt bewegen, sich darauf vorbereiten, das Nest zu verlassen, ihren Platz in der Peergroup suchen und natürlich auch schauen müssen, wo möchte ich später mal dazugehören. Wo passe ich hin?

Das heißt, Jugendliche beginnen zunehmend das Feedback des Umfelds wahrzunehmen. Und irgendwann werden diese Rückmeldungen wie zu eigenen internalisierten Rückmeldungen, d.h. ich fange an, das über mich selbst zu denken, was ich mal von anderen über mich gehört habe.

Das geht soweit, dass ich irgendwann auch vermeintliches Feedback von außen in Betracht ziehe – also, ich glaube, dass jemand von mir denkt, dass ich nicht so cool bin, obwohl ich das vielleicht gar nicht konkret gesagt bekomme. Aus der negativen Rückmeldung, die ich einmal gehört habe, kann sich so sehr schnell eine innere, kritische Stimme entwickelt.

 

Jugendliche allein im Wald

Diese Selbstkritik hat prinzipiell eine wichtige Schutzfunktion, denn sie möchte uns davor bewahren, dass wir auf die Nase fliegen und bei anderen schlecht ankommen. Aber sie hat eben auch einen sehr hohen Preis. Denn wenn ich mich ständig selbst kritisiere und in Frage stelle, ist das natürlich auch mit vielen unangenehmen Gefühlen wie Scham, Unsicherheit und Angst verbunden.

Noch dazu leben wir in einer Gesellschaft, die sehr leistungsorientiert ist und wo es sehr viel darum geht, sich zu vergleichen und möglichst besser zu sein als der Durchschnitt. Das heißt, der natürliche Entwicklungsprozess findet in einem gesellschaftlichen Rahmen statt, der diesen über-kritischen Blick auf sich selbst stark fördert.

Was passiert, wenn junge Menschen in dieser herausfordernden Zeit keine gute Begleitung bekommen?

Tamura: Wenn bei Jugendlichen die Herausforderungen so sind, dass sie diese nicht mehr gut bewältigen können, hat das auch gesundheitliche Auswirkungen. Dann können sich sogar psychische Krankheiten entwickeln. Am Ende sind diese jungen Menschen einfach auch für ihr zukünftiges Erwachsenenleben nicht so gut aufgestellt, weil sie schon so ein „Paket“ mitbringen.

Manche Jugendliche ziehen sich zurück und gehen am Ende gar nicht mehr in die Schule.

Was machen die Jugendlichen, wenn sie zu viel Druck verspüren?

Tamura: Wir alle bringen eingebaute Überlebensmechanismen mit. Und wenn ich mich in einer Situation überfordert fühle, dann gibt es diese typischen Reaktionen: fight, flight, freeze. Manche Jugendliche gehen in die Flucht, ziehen sich zurück und gehen am Ende gar nicht mehr in die Schule. Andere gehen in den Angriff und zeigen vielleicht aggressive Verhaltensweisen. Wieder andere erstarren, sie gehen vielleicht noch in die Schule, werden aber ganz teilnahmslos.

Auch ist es eine ganz natürliche Reaktion, Schmerz oder unangenehme Gefühle betäuben zu wollen. Jugendliche tun das z.B., indem sie sich stundenlang ins Handy vertiefen und sich dort mit sozialen Medien berieseln und ablenken lassen. Oder es kann auch in Richtung Alkohol- oder Drogenmissbrauch gehen oder in Richtung selbstverletzendes Verhalten.

Was kann Jugendlichen helfen, Resilienz aufzubauen?

Tamura: Achtsamkeit und Selbstmitgefühl sind einfach wunderbare Möglichkeiten, um Ressourcen aufzubauen: Ich lerne mit meinem Erleben umzugehen, mit den Stressoren, die mir im Alltag begegnen und wie ich mich selbst in dieser schwierigen Phase unterstützen kann.

Hilfreich ist es, wenn Jugendliche verschiedene Achtsamkeits- und Mitgefühlsübungen ausprobieren können und in den Alltag integrieren, wenn sie es brauchen. Mindestens genauso wichtig ist es aber, diese Qualitäten durch ein Gegenüber zu erfahren. Das heißt, dass ich selbst erlebe, dass mich mein Gegenüber mit einem achtsamen, wohlwollenden Blick sieht, mich nicht bewertet und auf meine Schwierigkeiten und Zweifel mit Mitgefühl reagiert.

Es reicht nicht, den Jugendlichen zu sagen, sei doch einfach liebevoller zu dir selbst. Es ist auch ganz wichtig, dass sie erleben, wie das geht und wie sich das anfühlt.

Wenn die Schulleistungen der Kinder nach unten gehen, fangen Eltern aus ihrer Angst heraus an, mehr Druck zu machen.

Was empfehlen Sie Eltern von betroffenen Jugendlichen?

Tamura: Eltern sollten verstehen, dass sie das, was sie sich für ihre Kinder wünschen, auch selbst leben müssen. Es geht darum, ein gutes Vorbild zu sein. Wenn ich mir als Elternteil wünsche, dass mein Kind besser mit intensiven Gefühlen umgehen kann, dann ist es wichtig, dass ich selbst einen guten Umgang mit meinen intensiven Gefühlen lerne und vorlebe.

Ich erlebe Eltern, die Angst um das Wohl ihrer Kinder haben und sich eine möglichst glückliche und erfolgreiche Zukunft für sie wünschen. Wenn die Schulleistungen der Kinder dann nach unten gehen, fangen sie aus ihrer Angst heraus an, mehr Druck zu machen. Dann entstehen oft sehr ungünstige Dynamiken, weil Druck und Angst das Lernen sehr schwierig machen.

Damit wären wir wieder bei der Achtsamkeit. Wenn Eltern es schaffen, öfter innezuhalten, können sie ihre eigene Reaktion darauf, wie es ihrem Kind geht, bemerken. Sie können schauen, was sie selbst eigentlich gerade brauchen – das wäre dann wieder das Selbstmitgefühl – und das erstmal versorgen. In einem späteren Schritt können sie überlegen, was eigentlich sinnvoll wäre für ihr Kind und die Familie. Damit wäre schon wahnsinnig viel gewonnen.

Wie fließen Achtsamkeit und Selbstmitgefühl in Ihre Arbeit mit den Jugendlichen ein und was hilft ihnen hier erfahrungsgemäß am besten?

Tamura: Natürlich sind praktische Übungen sehr wertvoll. Es geht darum den Werkzeugkoffer fürs Leben zu befüllen. Das sind oft kleine und einfach umzusetzende Tricks oder kleine Momente, die sie in ihren Alltag integrieren können. Manche Jugendliche fangen an, regelmäßig zu meditieren, das ist aber die Minderheit.

Die allermeisten üben für ein paar Minuten täglich oder denken daran, achtsam auf die Geräusche um sich herum zu achten bei der Mathearbeit. Oder sie atmen nochmal dreimal bewusst durch in einem stressigen Moment. Also die Vermittlung von konkretem Handwerkszeug ist der eine Part.

Einfach nur einen Katalog an Übungen hinzugeben, reicht nicht aus. Für viele ist es so, als ob sie eine ganz neue Sprache erlernen.

Das andere läuft im Zwischenmenschlichen ab. Wichtig ist, dass ich als Gesprächspartnerin selbst Mitgefühl verkörpere und mitfühlend auf die Jugendlichen reagiere – auch auf die Schwierigkeiten bei der Übung selbst. Dann nehme ich sie bei der Hand und Schritt für Schritt schauen wir, wie sie auf eine Herausforderung, die sich jetzt gerade im Raum ergibt, ein kleines bisschen mitfühlender reagieren könnten als sie es sonst tun würden.

Einfach nur einen Katalog an Übungen hinzugeben, reicht nicht aus. Denn für viele ist es so, als ob sie eine ganz neue Sprache erlernen, eine ganz neue Umgangsform. Man darf nicht vergessen, nicht alle Jugendlichen bringen schon einen Erfahrungsschatz an wohlwollenden Fürsorgeerfahrungen mit. Für manche ist es ganz neu, eine tröstliche, wohlwollende Stimme zu hören. Für sie wäre ein „sei freundlicher zu dir selbst“ überfordernd, weil sie davon noch gar kein Konzept mitbringen.

Was zeichnet die Arbeit in der Gruppe aus, wie erleben Jugendliche die Mindful Selfcompassion Kurse?

Tamura: Kristin Neff hat ja als eine der Komponenten des Selbstmitgefühls „das gemeinsame Menschsein“ definiert. Es ist Teil unseres menschlichen Daseins, zu scheitern, Fehler zu machen und schwierige Momente zu erleben. Wir sind damit nicht alleine. Es ist aber Teil dieses typischen jugendlichen Denkens, zu meinen, dass man der oder die einzige ist, die diese Schwierigkeiten hat, die etwas nicht kann oder die vor etwas Angst hat. Das ist im Jugendalter so stark wie in keiner anderen Lebensphase.

Dass es nicht so ist, das lässt sich natürlich in einer Gruppe wunderbar erlebbar machen. Wenn die Jugendlichen sich hier öffnen und mitteilen, treffen sie auf Leidensgenossen und das Verständnis von Gleichaltrigen.

Wenn ich nicht so viel Angst davor haben muss, schlechter als andere abzuschneiden, gäbe es viel weniger diese Tendenz zu Trennung.

Wie wäre es solche Erfahrungen auch in Schule zu tragen?

Tamura: Ich würde mir natürlich wünschen, dass wir mehr auf die Verbundenheit zubewegen als auf das Getrenntsein. In unseren Schulen geht es leider viel auch um Unterschiede, um „besser als du“, „beliebter als du“, „anders als du“. Wenn ich nicht so viel Angst davor haben muss, schlechter als andere abzuschneiden, gäbe es viel weniger diese Tendenz zu Trennung. Es gäbe großes Potential Leid zu lindern, wenn diese menschliche Verbundenheit mehr gefördert würde.

Welche Erfahrungen haben Sie selbst in Ihrer Jugend gemacht?

Tamura: Ich hatte ein paarmal das Glück, dass sich jemand die Mühe gemacht, hat mich wirklich, wirklich zu sehen, wie ich bin, durch wohlwollende Augen, und mich so anzunehmen. Das hatte ich mir als Jugendliche sehr gewünscht, da es mir selbst auch schwergefallen ist, mich so anzunehmen wie ich bin.

An der Schule hatte ich eine Lehrerin, die mich in meiner Not gesehen hat und versucht hat zu helfen. Teilweise hat mir die Schule das Leben gerettet, glaube ich. Schule war für mich ein Zufluchtsort. Und die Male, wo jemand in mein Leben gekommen ist und mir dieses Geschenk des Mitgefühls gemacht hat, die waren für mich so prägend, dass ich mir eigentlich schon in sehr jungem Alter gewünscht habe, einmal selbst so eine Person für Kinder und Jugendliche zu sein.

Es gibt für mich kein schöneres Privileg als erleben zu dürfen, was passiert, wenn ich mir diese Mühe mache: Wenn ich durch alle Qualitäten der Achtsamkeit und des Mitgefühls auf einen jungen Menschen blicke und sehen darf, was dann wachsen kann.

Danke für das Gespräch!

Dr. phil. Niina Tamura ist seit jeher begeistert von der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien. Ihr Psychologiestudium absolvierte sie an der Universität Oxford, wo sie bis zur Promotion im Bereich Entwicklungspsychologie gearbeitet hat. Im Anschluss absolvierte Sie die Weiterbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin an der Universität Heidelberg. Am Zentrum für Psychologische Psychotherapie bietet sie achtsamkeitsbasierte Gruppentherapien für Jugendliche an.  Mehr über Sie auf ihrer Seite.

 

Weitere Informationen

Niina Tamura / Lorraine Hobbs: Teaching self-compassion to teens. Vorwort von Christopher Germer, Nachwort von Daniel Siegel, 2022, Guilford Press

Eine deutschsprachige Version ist in Arbeit und wird im Arbor Verlag erscheinen.

 

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