So kommt Bewegung auf den Campus

Das Gespräch führte Marika Muster.

Es gibt den Spruch „Sitzen ist das neue Rauchen“. Warum ist langes Sitzen so schädlich und Bewegung so wichtig?

Prof. Christian Andrä: Evolutionsbedingt mussten die Menschen früher 15-20 Kilometer pro Tag laufen. Danach war es wichtig, sich auszuruhen und viel zu essen. In der Zeit sparte der Körper Energie ein. Auch heute ist unser Körper noch auf Energiesparen ausgerichtet, aber wir haben keine hohen Belastungen mehr. Wir nutzen theoretisch durchschnittlich nur noch etwa 10-15 Prozent unserer Kapazität.

Hier geht es also um „use or loose“ (nutzen oder verlieren). Was wir nicht nutzen, das verkümmert, sei es die Muskelkraft, die Beweglichkeit von Gelenken oder die Durchblutung des Gehirns. Beim passiven Sitzen fahren wir unser Energielevel runter. Daran sollte man sich nicht gewöhnen. So sind wir nicht geschaffen. Dann bekommen wir beispielsweise Rückenschmerzen, Diabetes oder Herz-Kreislauferkrankungen. Bewegung ist in 99 % der Fälle förderlich.

Früher musste man Dokumente von A nach B bringen und in einen Briefkasten werfen. Jetzt ist alles digital.

Studien haben gezeigt, dass Studierende länger sitzen als nichtstudierende Gleichaltrige und dass der Trend zum langen Sitzen in den letzten zehn Jahren sogar noch zugenommen hat. Wie erklären Sie sich das?

Andrä: Seminare und Vorlesungen finden zumeist auf unbequemen Stühlen statt. Zuhause und in der Bibliothek wird weiter im Sitzen gelernt. Dann kommt vielleicht noch das Essen beim Netflix-Schauen dazu und die Zeit, die mit Sozialen Medien verbracht wird.

Auch zum Austauschen untereinander und zu Sprechstunden mit den Dozierenden trifft man sich vermehrt online. In einer Welt aus schnellen Chats und digitalen Medien muss man nicht mehr körperlich aktiv sein. Auch aus Effektivitätsgründen. Früher musste man Dokumente von A nach B bringen und in einen Briefkasten werfen. Jetzt ist alles digital.

Mehr als die Hälfte der Studierenden sitzt länger als 8 Stunden pro Tag. Wie sorgen Universitäten für eine Reduzierung?

Andrä: Viele Hochschulen bieten Gesundheitssport an. Der Arbeitskreis Gesundheitsfördernde Hochschulen bietet viele Anregungen, aber es nehmen noch zu wenige wahr. Die Informationsflut ist zu groß und Studierende denken „Was soll ich jetzt noch alles machen?“. Nur wenn der Leidensdruck groß ist, zum Beispiel bei Rückenschmerzen, dann kommen Studierende zu den Angeboten. Präventiv ist es schwierig.

Deshalb sollte die Zeit in der Hochschule genutzt werden. Man kann gemeinsame Bewegungspausen machen. Dafür können Externe kommen. Aber authentischer ist es, wenn die Dozierenden sie selbst anleiten und mitmachen. Oder Studierende können zu zweit Bewegungseinheiten entwickeln. Die Aufgabe kann ich als Dozierender abgeben und bekomme dadurch auch selbst gute Ideen.

Außerdem muss man Bewegung breit denken. Sie ist mehr als Sport. Oft genügen schon Mikrobewegungen am Platz. Mal aufstehen, nach hinten drehen, verschiedene Positionen einnehmen. 90 Minuten starr sitzen geht nicht mehr. Selbst für Prüfungen müssen andere Lösungen gefunden werden. Vor allem ist es wichtig, Bewegung in die Lehre einzubauen.

Können Sie Beispiele dafür geben?

Andrä: Man kann kleine Bewegungselemente einbinden. Mal die Plätze wechseln. Zettel sollten weder durch den Dozierenden noch durch einen Austeildienst verteilt werden. Jeder kann selbst aufstehen und sich seine Zettel holen. Das macht vielleicht erstmal Unruhe für zwei Minuten, aber die sind gut investiert und mit der Übung und sich einstellender Gewohnheit klappt das auch ruhiger und schneller.

Die WHO empfiehlt, mindestens 10.000 Schritte pro Tag zu gehen. Was können Hochschulen tun, um ihren Studierenden das zu erleichtern.

Andrä: Ich empfehle den aktiven Transport zur Hochschule, zu Fuß, mit dem Fahrrad, dem Skate- oder Longboard oder zumindest mit Bus und Bahn. Damit ist schon viel geschafft und man hat zweimal am Tag Bewegung, bestenfalls an der frischen Luft.

Es ist auch gut, wenn Studierende einmal am Tag den Campusteil wechseln müssen. Angeregt durch Dozierende kann ein „Walk and talk“ für zusätzliche Bewegung draußen sorgen. Bei einem Spaziergang kann das Gelernte sacken und man bekommt neue Ideen.

Oft genügen schon Mikrobewegungen am Platz.

Man kann die Studierenden auch mit kleinen Nudging-(Anstupser)Elementen zu gesundheitsbewusster Aktivität anregen. Zum Beispiel Treppenstufen bekleben auf denen steht, wie viele Kalorien man verbraucht. Man könnte außerdem kostenlose Leihfahrräder auf dem Campus anbieten.

Irgendwann kommt der Modus, dass der Körper nach Bewegung verlangt, weil er das mag und sich wieder gut fühlen bzw. das schöne Gefühl wieder haben möchte. Da muss man aber erstmal hinkommen, immer mal wieder niedrigschwellig.

Wie reagieren die Dozierenden auf solche Angebote?

Andrä: Die Lehre wird oft vermittelt, wie sie schon immer vermittelt wurde. Es gibt viel Routine, Gewohnheit, aber auch Angst vor Veränderung. Die Dozierenden trauen sich nicht so richtig ran. Aber das Niveau ist in vielen Bereichen gesunken: beim Schreiben, beim Lesen und beim Sport. Da muss sich was verändern!

Was wünschen Sie sich für die Studierenden?

Andrä: Dozierende sollten sich fragen, wie viel ihre Studierenden aufnehmen können, was sie brauchen, was sie belastet und sie auch direkt fragen. Wir müssen davon ausgehen, dass es einer relativ hohen Zahl an Studierenden nicht gut geht, die das aber nicht mitteilen.

Einfach nur den Stoff runterrattern ist nicht mehr zeitgemäß. Und zu sagen „Da müssen sie durch“ ist fahrlässig. Studierende haben schon so viele Herausforderungen. Wir müssen mehr mit Gefühlen und Befindlichkeiten arbeiten, in Resonanz gehen.

Das hat auch was mit Wertschätzung zu tun. Meine Studierenden wissen „Der zieht nicht 90 Minuten durch“. Sie wissen, dass bei mir nach 20-30 Minuten eine Entlastung kommt. Etwas, worauf sie sich freuen, und was sie motiviert. Wenn man die Distanz aufbricht und mit dem ganzen Körper lernt, entstehen viele tolle Momente.

Resilienz heißt, dass ich agiere, statt zu reagieren.

Im Zusammenhang mit Bewegung tauchen auch Begriffe wie Entspannung, Stressbewältigung und Resilienz auf. Wie sind diese Themen miteinander verknüpft?

Andrä: Generell ist Stress nichts Schlechtes. Im mittleren Bereich ist er sogar leistungsfördernd. Es ist überlebenswichtig, Kräfte mobilisieren zu können, um zu flüchten. Daher sollte man das erstmal positiv sehen. Aber wenn man dauerhaft Stress hat, dann laugt es den Körper aus und ich habe keine Entspannung mehr. Man sollte sich fragen: Was tut mir gerade gut? Bewegung ist nicht zwingend die erste Wahl. Man braucht vielleicht auch erstmal Ruhe und schläft eine Runde.

Bewegung heißt, dass ich mich gedanklich ablenke. Ich schaffe es normalerweise nicht, beim Sport noch an Probleme zu denken. Über Bewegung kann ich gedanklich und räumlich einen Konflikt verlassen. Bewegung kann uns auch widerstandfähiger machen. Wenn ich beispielsweise ausgeprägte Bauchmuskeln habe – es muss kein Sixpack sein – dann habe ich meist auch eine stabile, selbstbewusste Haltung. Dann haut mich nicht gleich etwas um. Ich bin robust und kann Widerstand ertragen.

Resilienz heißt auch, dass ich agiere, statt zu reagieren. Ich habe Dinge im Griff, sie werden für mich handhabbar. Das ist aktive Selbststeuerung. Wer seinen Körper gut kennt, kann sich entspannen. Am besten durch Bewegung an der frischen Luft, bei Tageslicht und Sonne. Das gibt es kostenlos und wirkt sich positiv aufs Gemüt aus. Dopamin wird ausgeschüttet. Es entstehen Glücksgefühle. Denn der Mensch bewegt sich gerne. Wenn jemand sich nicht bewegen darf, dann stresst das.

Wie kann man Bewegung mit Achtsamkeit und Bewusstheit verbinden?

Andrä: Wir sollten uns fragen: „Wie bewege ich mich gerne? Was hat mir gutgetan und warum mache ich das nicht mehr?“ Als Kind bewegt sich jeder gerne. „Stopp. Was passiert da mit mir? Ich habe ja Lust darauf, ich hatte nur keine Gelegenheiten.“ Dann kann ich mir bewusst Bewegungsinseln im Alltag suchen. Am besten zusammen mit einer Gruppe.

Außerdem ist Achtsamkeit wichtig, wenn man den Tag reflektiert: „Was stresst mich? Bin ich auf dem richtigen Weg? Wie geht es mir gesundheitlich? Was will ich achtsamer tun? Wie kommen Dinge in Bewegung?“ Viele Menschen leben immer schon im nächsten Moment. Die richtigen Fragen zu stellen ist wichtig. Dann gehen wir auf unsere Gesundheit ein und schaffen optimale Bedingungen für unseren Lernalltag.

Außerdem brauchen wir Raum für Spontaneität. Wenn man zu voll getaktet ist, dann kann man nicht spontan sein. Nicht jede Minute muss mit Tun gefüllt sein.

Vielen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. Christian Andrä studierte Sportwissenschaft und Erziehungswissenschaft und promovierte zum Thema „Bewegte Schule“. Er arbeitete in der Lehramtsausbildung an der Universität Leipzig und übernahm nacheinander die beiden Vertretungsprofessuren für Gesundheitsbildung/Gesundheitserziehung und Sportdidaktik an der Universität Potsdam. Derzeit ist er Professor für Bewegungs- und Sportpädagogik an der Fachhochschule für Sport und Management Potsdam und berät und begleitet Kindertagesstätten und Schulen mit Fokus auf der allgemeinen Bewegungsförderung und der Förderung qualitativer Lehr- und Lernprozesse.

Hier finden Sie weitere Informationen zu gesundheitsfördernden Maßnahmen an Hochschulen

Arbeitskreis Gesundheitsfördernde Hochschulen