Studie “Atempause” zeigt: Die Kinder lernen etwas fürs Leben

Ziel der Interventionsstudie war es, Achtsamkeit in der Grundschule zu fördern. Dazu wurde die Intervention „Atempause“ entwickelt, die aus einer Sammlung kurzer, täglicher, auf Atemübungen basierender Achtsamkeitsübungen besteht. 15 Lehrer*innen haben neun Wochen lang die Übungen bis zu dreimal täglich mit ihren Schüler*innen gemacht.

Was war Ihre größte Herausforderung bei der Durchführung der Studie? 

Von Salisch: Corona. Corona war eine gigantische Herausforderung. Die Lehrkräfte hatten einen enormen Mehraufwand in der Grundschule mit Masken, Lüften, Händewaschen… und dann noch bis zu drei Atempausen pro Tag! Dass sie uns als schulfremde Personen überhaupt in die Schule gelassen haben, war schon ein Wunder! Ich habe Interviews mit Lehrkräften auf dem Schulhof führen müssen, weil sie die Lerngruppen separieren mussten und keine Räume hatten. Das war eine wirklich turbulente Zeit.

Und deshalb ist unser Studienergebnis bzgl. des positiven Klassenklimas so bemerkenswert. In den Interventionsklassen ist in dieser herausfordernden Zeit die Stimmung in den Klassen nicht abgesackt. In der Kontrollgruppe ist sie hingegen schlechter geworden.

Vor allem die Mädchen wurden nach der Intervention prosozialer wahrgenommen als vorher.

Ein weiteres Ergebnis der Studie hat gezeigt, dass vor allem die Mädchen nach der Intervention prosozialer wahrgenommen wurden als vorher. Wie erklären Sie sich das

Von Salisch: Die Zeit der Pandemie war eine Zeit, in der in der Schule besonders viel Hilfebedarf bestand, z.B. bei der Durchführung der Tests, beim Lüften, dem Abstandhalten. Da konnten Mädchen sich hilfreich betätigen.

Zugleich stellten wir in ihren Rückmeldungen fest, dass die Mädchen, was die Atempausen anging, ansprechbarer waren. Das kann damit zu tun haben, dass die Übungen in unserem Fall von Frauen anleitet wurden. Es kann aber auch an impliziten Geschlechtsnormen liegen: Wir wissen, dass im Grundschulalter Mädchen und Jungen ein bisschen getrennte Wege gehen und sich stärker voneinander abgrenzen. Was Mädchen dann gut finden, können Jungs dann eher nicht gut finden und umgekehrt.

Wie haben Sie die Veränderungen im Verhalten der Kinder gemessen?

Von Salisch: Die Selbstbeurteilung des prosozialen Verhaltens ist oft nicht ganz angemessen. Wir halten uns eher für prosozial, aber unsere Mitmenschen stimmen damit nicht unbedingt überein. Deswegen haben wir die Mitschüler*innen befragt. Denen haben wir Fragen gestellt wie „Wer ist gut im Teilen?“ und „Wer ist gut im Kooperieren?“ Die beiden Aspekte korrelierten sehr stark miteinander, sodass wir sie zusammengezogen haben zu „prosozialem Verhalten“.

Vielleicht muss man die Jungs tatsächlich mehr über die Bewegung abholen.

Kann es sein, dass viele Jungs einen stärkeren Bewegungsdrang haben und deshalb nicht so gut auf die Übungen eingehen konnten?

Von Salisch: Ja, das kann sein. Wir haben zwischendurch sogenannte „Dreifinger-Evaluationen“ gemacht, also Rückmeldungen erfragt 1. Was fand ich gut?, 2. Was fand ich nicht so gut? und 3. Was sollte man unbedingt ändern? Heraus kam, dass die Mädchen die Stille mehr wertschätzen konnten als die Jungen. Für sie war es etwas Schönes, Entspannendes. Vielleicht muss man die Jungs tatsächlich mehr über die Bewegung abholen. Aber unsere aktivierende Übung, die Regenbogenatmung, fanden sie auch nicht unbedingt besser.

Dazu kommt, dass ein deutliches Überverhältnis an Jungs mit ADHS besteht. Das sind sehr bewegungsintensive Jungs. Für die ist es schwierig, sich so zurückzunehmen. Vielleicht muss man die Atempausen hier nochmal anders anpassen, die Übungen beispielsweise kürzer durchführen.

Wie haben die Kinder denn insgesamt auf die Atempausen reagiert?  

Von Salisch: Insgesamt haben die Kinder sehr positiv reagiert. 91% waren es beim ersten Messzeitpunkt und 84,6% beim letzten Messzeitpunkt, die etwas Positives geschrieben haben – also auch noch nach mehreren Monaten!

Unsere Idee beim Üben ist „mäßig, aber regelmäßig“, um die neurologischen Bahnen zu stärken.

Wie war die Resonanz von Seiten der Lehrkräfte, wie oft haben sie die Übungen in den Unterricht eingebaut?

Von Salisch: Die Lehrkräfte hatten ganz überwiegend Freude an der Durchführung, an der Kürze der Übungen und an der situativen Flexibilität. Bei den Atempausen konnten sie nämlich wählen, ob die Kinder und sie selbst eher eine Ruhe- oder eher eine Aktivierungspause brauchten. Unsere Idee beim Üben ist „mäßig, aber regelmäßig“, um die neurologischen Bahnen zu stärken. Dreimal täglich hatten wir als Ziel vorgegeben, einige haben sich dem angenähert, aber allen war das zu viel.

Auch wenn die Lehrkräfte sich zu zweit zusammen taten, damit jeden Tag mindestens eine*r in der Klasse war, um die Atempausen durchzuführen oder sie sich über den Tag aufteilten. Es war einfach eine schwierige Zeit mit vielen anderen Anforderungen und wenig Raum und Luft für Extras. Ob das mehrmalige Üben an einem Schultag auch unter „normalen“ Bedingungen schwerfällt, sollte in Zukunft überprüft werden.

Sie haben für Ihre Studie ein Übungen genutzt, die für Lehrkräfte leicht zu erlernen und anzuleiten ist. Haben Sie das bewusst so gewählt?

Von Salisch: Ja. Die Übungen sind für Lehrkräfte gedacht, die gerne Achtsamkeitsübungen wie die Atempause in den Unterricht einbauen möchten, aber nicht allzu viel Vorwissen haben. Denn Inquiery, also das tiefe Gespräch zwischen Anleitendem und Angeleitetem in einer Übung oder Meditation, dafür muss man einiges an Fingerspitzengefühl oder Vorbildung haben. Und das für eine ganze Klasse zu managen, ist höchst anspruchsvoll. Unsere “Atempause” ist niedrigschwelliger. Kinder nach Instruktionen anleiten, das können Lehrkräfte, das haben sie gelernt.

18% der Kinder gaben an, dass sie ihren Geschwistern, Eltern oder Freunden Übungen von der Atempause beigebracht haben.

Gibt es bei den Lehrkräften Impulse, am Thema dranzubleiben?

Von Salisch: Auf jeden Fall. Wir haben in unserer Evaluationsstudie auch nach dem „Transfer“ nach den neun Wochen der Intervention gefragt. Fast alle Lehrkräfte haben erzählt, dass sie die Übungen auch in anderen Klassen machen oder dass sie ihren Kolleg*innen davon berichten und die Atempausen empfehlen.

Auch bei den Kindern gab es Transferaktivitäten: 18% der Kinder gaben an, dass sie ihren Geschwistern, Eltern oder Freunden Übungen von der Atempause beigebracht haben. Die sind so einfach. Zum Beispiel die „Berg- und Tal-Atmung“ kann man sehr einfach auch als Kind anderen erklären. Guck mal, das hab ich heute in der Schule gelernt. Das ist natürlich ideal.

Und 40% der Kinder haben die Übungen während des Lockdowns allein zuhause weitergemacht. 17% ein- oder mehrmals pro Woche. Das ist enorm. Und 45% gaben an, dass ihnen die Übungen geholfen haben, mit den Belastungen zu Hause und im Homeschooling fertig zu werden. Für 12% war die Unterstützung „sehr stark“ – es gibt da also noch eine kleinere Gruppe, die von den Übungen ganz besonders profitiert hat.

Was die Kinder hier gelernt haben, können sie auch in anderen schwierigen Zeiten oder herausfordernden Momenten nutzen. Sie haben jetzt ein Tool an der Hand, auf das sie zurückgreifen können – selbst wenn es in der Schule nicht weiter gefördert wird. Für mich ist das eines der stärksten Ergebnisse der Studie. Die Kinder lernen etwas fürs Leben.

Die Kinder haben jetzt ein Tool an der Hand, auf das sie in herausfordernden Zeiten zurückgreifen können.

Welche gesellschaftliche Relevanz von Achtsamkeitsinterventionen in der Schule könnte man aus den Ergebnissen ableiten?  

Von Salisch: Ich glaube, dass wir Kindern Wissen an die Hand geben, um mit schwierigen Lebenssituationen besser umzugehen. Ich bin wirklich erstaunt darüber, dass man mit wenigen Mitteln – einer Zusammenstellung von 16 Achtsamkeitsübungen angeleitet über neun Wochen – so viel erreichen kann. Das ist eigentlich kein großer Aufwand, sowas als Ritual im Schulalltag zu verankern.

Schule ist ein idealer Ort dafür, weil dort die Übungspraxis sichergestellt werden kann – zuhause üben die Kids ja selten und die, die es besonders gut gebrauchen könnten, oft gar nicht. Die (Ganztags-)Schule bietet einen guten Rahmen. Diese Übungen sind ein guter Einstieg für Lehrkräfte, die noch nicht so viel Erfahrung mit Achtsamkeit haben.

Wenn es gut läuft, können einige Minuten der Stille auch für die Lehrkräfte erholsam sein. Einige Lehrer*innen berichteten, dass sie bewusst ruhige Übungen gemacht haben, wenn sie selbst eine Pause brauchten.

Wie geht es nun mit der Atempause weiter?

Von Salisch: Wir werden die Übungen mitsamt der Evaluationsstudie in Buchform herausbringen. Außerdem haben unsere Studierenden ein wunderschönes Manual für die Grundschule hergestellt. Wir hatten noch ein wenig Geld übrig aus der Förderung durch das Wissenschaftsministerium von Niedersachsen und so haben wir das gedruckt und werden es weitergeben – zum Beispiel auf der baldigen Konferenz in Leipzig, wo ich auch unsere Studie vorstellen werde.

Vielen Dank für das Gespräch und bis in Leipzig!

 

Salisch, Hondrich & Voltmer: Atempause. Achtsamkeit in der Grundschule täglich üben. Erscheint 2024 im Waxmann Verlag

 

Fakten zur Studie

Förderung: Die Studien wurde u.a. auch durch das AVE Institut gefördert.

Methode: In einer randomisierten kontrollierten Studie erhielten 146 Dritt- und Viertklässler (49 % weiblich) entweder die Intervention (n = 81) oder nahmen an der aktiven Wartelisten-Kontrollgruppe teil (n = 65). Die Schüler*innen wurden gebeten, prosoziale Gleichaltrige zu benennen und über unterstützende Beziehungen zu Gleichaltrigen in ihren Klassenzimmern vor (Vortest) und nach (Nachtest) den neun Wochen der Atempausenintervention sowie in einer Nachuntersuchung fünf Monate später zu berichten.

Ergebnisse: Die gemischten Mehrebenenmodelle zeigten eine Interaktion zwischen Gruppe × Geschlecht × Posttest (t(211) = 2,64, p < 0,01), was darauf hindeutet, dass Mädchen in der Interventionsgruppe von Gleichaltrigen im Nachtest als prosozialer eingeschätzt wurden als im Vortest und als Mädchen in der aktiven Kontrollgruppe, auch wenn das Alter der Kinder und die Bildung ihrer Eltern berücksichtigt wurden.

Unterstützende Beziehungen zu Gleichaltrigen in der aktiven Kontrollgruppe verschlechterten sich zwischen Vortest und Nachtest, der unmittelbar vor der zweiten Schulschließung aufgrund der COVID-19-Pandemie im Dezember 2020 lag, während sie in der Interventionsgruppe gleich blieben (t(223) = 2,56, p < 0,05). Beide Effekte hielten bei der Nachuntersuchung nicht an, wahrscheinlich aufgrund des unregelmäßigen Schulbesuchs der Kinder während des Lockdowns.

Schlussfolgerungen: Die Einführung einer kurzen täglichen Atemübung in Grundschulklassen scheint wirksam zu sein, um unterstützende Beziehungen zu Gleichaltrigen aufrechtzuerhalten und das prosoziale Verhalten von Mädchen zu fördern.

Die Auswirkungen der Atempause wurden fünf Monate nache dem Ende der Intervention über einen Rechentest überprüft. Hier kommen Sie zum Bericht bei scientific reports: Voltmer Breathing Break affects

Studie mit Grundschulkindern